Sid Justice – Heel-Charisma ersten Ranges

Wrestling-Legende Sid Justice im Porträt

Bildquelle: Mandy Coombes [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons (Bild bearbeitet)

Sid Ray Eudy, besser bekannt unter seinen Ringnamen Sid Justice, Sid Vicious oder Sycho Sid, war eine beeindruckende Erscheinung im Wrestling. Mit über zwei Metern Körpergröße und der Statur eines Hünen, wie man ihn sich in Wikinger-Legenden vorstellt, war Sid eine einprägsame und einschüchternde Gestalt. Das lag vor allem daran, dass er zwar sehr muskulös war, aber nicht diese aalglatte Bodybuilder/Beach Body Physik mitbrachte, wie viele Wrestler der 1980er und 1990er. Eine intensive Charakterdarstellung als durchgeknallter Heel rundete den Eindruck ab.

In Summe entstand so das Bild eines Mannes, der nicht in erster Linie nackt gut aussah, sondern Gefahr ausstrahlte. Und das ganz ohne Schminke, sondern durch pure Aura! Umso erheiternder, dass Sid Eudy abseits des Rings als begeisterter Softball-Spieler galt. Werfen wir einen Blick auf eine der (für die Begriffe dieses Autors) faszinierendsten Wrestling-Figuren der 1990er.

Erste Erfolge kommen schnell

Sid Eudy wurde angeblich von den Gebrüdern Poffo (besser bekannt als „Macho Man“ Randy Savage und The Genius) entdeckt, die ihm eine Karriere als Wrestler nahelegten. Eben jene nahm er ab 1987 aktiv in Angriff, wobei er zunächst als der maskierte Lord Humungous auftrat (in Anlehnung an den Ober-Bösewicht aus Mad Max 2). Er teamte außerdem mit Austin Idol und konnte als Lord Humungous relativ rasch eine lokale NWA Heavyweight Championship gewinnen. Eine lokale NWA Tag Team Championship konnte er mit Shane Douglas abgreifen, nachdem er sich zum Babyface wandelte.

Es ging also schon früh bergauf für den mit körperlichen Anlagen gesegneten Sid Eudy. In Japan konnte er Tatsumi Fujinami gar um die bedeutsame IWGP-Meisterschaft im Schwergewicht herausfordern. Zurück in den USA nahm er dann den Namen Sid Vicious an (inspiriert vom gleichnamigen Bassisten der Sex Pistols). Diesen Namen sollte er vor allem während seiner WCW-Runs tragen. Bei eben jener Promotion kam er 1989 unter.

Erster WCW-Run

In der WCW wurde Sid Vicious relativ schnell mit dem ebenfalls hochgewachsenen Dan Spivey zum Tag Team der Skyscrapers (Wolkenkratzer) zusammengeworfen. Obwohl dieses Tag Team nur sehr kurzfristig Bestand hatte, war es doch einprägsam, da die beiden Riesen sogleich prominent als Gegner der Steiner Brothers sowie der Road Warriors eingesetzt wurden. Doch in einem Match mit den Steiner Brothers wurde Sid Vicious verletzt, als er sich eine Rippe brach, die auch noch die Lunge durchbohrte.

Das Tag Team löste sich (bis auf ein späteres, einmaliges Wiedersehen) auf und der eventuell genesene Sid Vicious wurde stattdessen als kraftvoller Vollstrecker Teil der Four Horseman. Dabei bekam er es, man mag es kaum glauben, um ein Haar mit RoboCop zu tun (ja, so was passierte damals in der WCW). Wenig später wurde Sid von Lex Luger in deutlich unter einer Minute besiegt. Das Ganze eine Strafe dafür, weil er während seiner Abwesenheit gesehen wurde, als er Softball spielte.

Wir fassen zusammen: Softball ist nicht männlich genug, um die Illusion des furchterregenden Wrestlers aufrechtzuerhalten. Aber ein Rendezvous mit RoboCop? Keine Einwände! Die frühen bis mittleren 90er waren eine sonderbare Zeit im Wrestling, das sich in einer Art kommerziellen Midlife Crisis befand. Die WCW konnte hier als besonders durchgeknallter Vertreter gelten!

Main Event Durchbruch und erster WWF-Run

Abseits dieser kleinen Maßregelung stieg Sid Vicious jedoch stetig in der Hackordnung der WCW auf. So forderte er WCW-Champion Sting um dessen Heavyweight-Titel heraus, wenn auch erfolglos. Zwischenzeitig wurde er abermals zum Babyface gemacht, was jedoch nicht lange hielt. Dies sollte ohnehin ein wiederkehrendes Muster in der Karriere von Sid Vicious werden. Immer wieder wollten ihn Promoter zum Babyface machen, wahrscheinlich weil sie sich so mehr Vermarktbarkeit von seinem Look versprachen, doch das sollte nie lange Bestand haben. Dafür war Sid als Heel einfach wesentlich besser und spielte diesen laut eigenem Bekunden auch lieber.

 

 

Im Mai 1991 wechselte Sid, nun als Sid Justice, zur WWF. Auch dort begann er als Babyface und gab zunächst den Special Referee, als Hulk Hogan und der Ultimate Warrior auf das Triangle of Terror trafen. Nachfolgend absolvierte Sid Justice einige Matches, doch eine Verletzung am Bizeps erzwang eine kurze Pause. Er kehrte beim Royal Rumble 1992 zurück, wo er erst spät in den Ring kam und sowohl Hulk Hogan als auch den "Macho Man" eliminieren konnte. Pikanterweise jubelten die Fans vor Ort, als Sid Justice den Hulkster übers Seil hievte. Erste Abnutzungserscheinungen von Hulkamania wurden offenbar.

Erster WWF-Run endet im Zwist

Die WWF verschleierte die Rezeption, welche die Eliminierung von Hulk Hogan nach sich zog, indem das Videomaterial mit vermeintlichen Buhrufen editiert wurde. Sid selbst wurde vom Royal Rumble Sieger Ric Flair eliminiert, als Hulk Hogan Sid von draußen festhielt (unmittelbar nachdem er selbst eliminiert worden war). So wurde Sid Justice zu Hulk Hogans Gegner für WrestleMania VIII, während Ric Flair es mit dem "Macho Man" zu tun bekam. Hulk Hogan konnte Sid Justice im Main Event von WrestleMania besiegen, jedoch nur durch Disqualifikation.

Danach schien die Bahn frei für Sid Justice. Doch ein Drogen-Screening im Vorfeld von WrestleMania VIII, beflissen von der WWF im Zuge des Steroid-Skandals eingeführt, schlug bei Sid Justice an und er wurde suspendiert. Er nutzte die freie Zeit, um seiner Leidenschaft, dem Softball, nachzugehen. Vertragliche Dispute mit der WWF und dem Ultimate Warrior, mit dem sich Sid Justice nicht auf ein gemeinsames Programm verständigen konnte, beendete seinen ersten WWF-Run, der bis dahin mit wehenden Fahnen verlaufen war, unvermittelt und vorzeitig.

Später blickte Sid Eudy in hintergründigen Interviews mit Ernüchterung auf diesen ersten WWF-Run zurück und hielt ihn gar für einen Fehler. Vor allem, weil er dafür eine Vertragsverlängerung der WCW ausgeschlagen hatte, die sich im Nachhinein als wesentlich lukrativer entpuppt hätte.

Ein Blutbad in Blackburn

So kehrte Sid Eudy, nun wieder als Sid Vicious unterwegs, 1993 zur WCW zurück, wo er sogleich (an der Seite von Vader) wieder seine alte Rivalität mit WCW-Darling Sting aufnahm. Allerdings sollte dieser WCW-Run auch nicht lange währen. Grund dafür war eine blutige Auseinandersetzung mit Arn Anderson. Während einer WCW-Tour durch Großbritannien gerieten Sid Vicious und Arn Anderson in einen Streit, bei dem es wohl Arn Anderson war, der das Ganze auf eine neue Eskalationsstufe trieb, als er Sid mit einer geworfenen Flasche traf.

 

 

Doch damit war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Nachdem die beiden Streithähne getrennt worden waren und auf ihre Hotelzimmer verwiesen wurden (der Streit war an der Hotelbar entflammt), bewaffnete sich Sid mit einem Stuhlbein, um mal freundlich bei Arn Anderson anzuklopfen. Dieser rechnete schon mit Besuch und kam mit einer Schere bewaffnet zur Tür, was sich übel rächen sollte. Als sich der Staub lichtete, wies Sid vier Stichwunden auf – und Arn Anderson 20! Wären nicht 2 Cold Scorpio als verzweifelter Streitschlichter und Vader als Ersthelfer zugegen gewesen, hätte es noch übler ausgehen können.

Vince McMahon in Verlegenheit

Rechtlich hatte dieser berüchtigte Vorfall kaum Konsequenzen. Denn für eine gerichtliche Untersuchung hätte mindestens einer der beiden 90 Tage im Land bleiben müssen, weshalb beide darauf verzichteten, einander gerichtlich zu belangen. Zumal keiner bei dem Vorfall wirklich gut ausgesehen hatte. In der Umkleide der WCW lagen die Sympathien jedoch klar beim lang gedienten Arn Anderson. Vor allem weil man dort scheinbar über die exzessive Gegenwehr von Sid schockiert war (Arn Anderson hatte einen knappen Liter Blut verloren). Sid Vicious wurde auf Druck seiner Kollegen entlassen.

Doch sollte er nicht lange ohne Beschäftigung bleiben. So kam er zwischen 1994 und 1996 bei der von Jerry Jarrett betriebenen USWA unter, wo er zweifach das große Gold holen konnte, um welches er hauptsächlich mit Jerry Lawler stritt. Und auch Vince McMahon meldete sich zähneknirschend, um Sid (dort nun als Sycho Sid) in seine Dienste zu nehmen. Nach den Abgängen von Hulk Hogan, Randy Savage, Diesel und Razor Ramon war Vince McMahon händeringend auf jeden Wrestler mit Star Power angewiesen, den er haben konnte.

Sycho Sid als Zeichen der Zeit?

Die WWF war am Tiefpunkt und die die WCW erstarkte. Und gleichwohl Vince McMahon Verhandlungen mit Sid (der selbst stetes sehr auf seine Bezahlung bedacht und ein schwieriger Verhandlungspartner war) eher genervt gegenüberstand, wollte er sich diesen hoch-kalibrigen Free Agent (ein seltenes Gut in diesen Tagen) nicht entgehen lassen. So stieß Sycho Sid zur WWF und sollte dort seinen erfolgreichsten Run hinlegen, mitsamt zwei Regentschaftszeiten als WWF World Champion und einem WrestleMania 13 Main Event gegen den Undertaker.

 

 

Ein Zeichen der Zeit war dabei der erste Titelgewinn von Sid gegen Shawn Michaels bei den wegweisenden Survivor Series 1996. Gleichwohl Sid ganz klar als Heel dargestellt wurde, war das Publikum im Madison Square Garden begeistert, als er Shawn Michaels besiegte. Aalglatte Babyfaces waren einfach nicht mehr gefragt. Etwas, wovon wenig später ein gewisser „Stone Cold“ Steve Austin immens profitieren sollte, der bei dieser Veranstaltung seine Fehde mit dem zurückgekehrten Bret „Hitman“ Hart pflegte, was sich als entscheidende Weichenstellung für die Attitude Ära erweisen sollte.

Auf Umwegen zu WrestleMania

Sids zweiter Titel-Run bei der WWF kam eher ungeplant zustande. Beim Royal Rumble 1997 hatte er seinen Titel wieder an Shawn Michaels verloren. Doch der zu diesem Zeitpunkt als Nervenwrack und schwieriger Charakter geltende Shawn Michaels legte zur Überraschung aller seinen Titel öffentlich nieder, da eine angebliche Knieverletzung dies notwendig gemacht hätte. Bis heute deuten die meisten Beobachter vor und hinter den Kulissen dies als taktisches Manöver von Shawn Michaels, der damit einer bevorstehenden Niederlage gegen Bret Hart bei WrestleMania entgehen wollte.

Wie dem auch sei: Die WWF sah sich um ihre geschmiedeten Pläne gebracht und so wurde der Titel (mit einem kurzen Abstecher über Bret Hart) wieder Sycho Sid zugeschoben, der ihn dann bei WrestleMania 13 an den Undertaker abgab. Nach WrestleMania bekam Sid, der mittlerweile eher als Publikumsliebling eingesetzt wurde, es vor allem mit der Hart Foundation zu tun (ein Eingriff von Bret Hart hatte Sid das Match bei WrestleMania 13 gekostet). Doch eine Nackenverletzung machte schließlich eine Operation nötig, weswegen Sid unvermittelt aus der WWF verschwand.

Überfällige Titelerfolge bei der WCW

Sid war daraufhin für fast ein Jahr im Wrestling inaktiv, trat aber wieder Ende der 90er in einigen kleineren Shows sowie bei der ECW auf. Unter verkehrten Vorzeichen kehrte er 1999 zur WCW zurück, die nun ihrerseits gegenüber der WWF ins Straucheln geraten war. Im September 1999 konnte Sid Vicious sich die United States Heavyweight Championship nach einem Sieg über Chris Benoit umschnallen. Und abseits der Jahrtausendwende sollte es ihm zweifach gelingen, die WCW Heavyweight Krone zu gewinnen – etwas was ihm bei vorherigen Runs, trotz klarer Präsenz im Main Event – nie gelungen war.

 

 

Mit Siegen über Kevin Nash (den ehemaligen Diesel) gewann er jeweils beide Male die WCW-Haupttitel. Ferner verteidigte er diese gegen Scott Hall (alias Razor Ramon) und Jeff Jarrett. Letztlich verlor er seinen Titel noch nicht mal im Ring, sondern wegen der WCW New Blood Storyline, bei der alle Titel vakantiert wurden. Einer der verzweifelten späten Versuche der WCW, neue Gesichter zu etablieren.

Ein schmerzhafter Anblick

Danach wurde es in der WCW sehr still um Sid. Sein letzter einprägsamer WCW-Moment sollte dabei besonders schmerzhaft werden, als er sich eine extreme Beinverletzung bei einem WCW-PPV zuzog. In einem 4-Mann-Titelmatch zeigte Sid Vicious einen Big Boot vom zweiten Ringseil, wobei er mit dem Standbein unglücklich aufkam, welches dabei sichtbar an mehreren Stellen brach! Bis heute behauptet Sid Vicious, der sonst so gut wie nie solche Manöver zeigte, von den WCW-Verantwortlichen zu dieser Aktion überredet worden zu sein. Als er später gerichtlich dagegen vorging, kam jedoch nichts dabei herum, da Wort gegen Wort stand.

Diese wohl berüchtigtste je im TV ausgestrahlte Sportverletzung des Wrestlings war nicht nur so massiv, dass sie die Wrestling-Karriere von Sid bedrohte. Es stand sogar zur Debatte, ob er je wieder würde rennen können. Für den passionierte Sportler Sid Eudy ein absolutes Albtraum-Szenario! Doch mit einer langwierigen und verbissenen Reha gelang Sid Eudy, dem ein 43 cm langer Stab ins Bein eingesetzt werden musste, wieder eine weitgehende Genesung!

Rückkehr und langsamer Ausklang

Ab 2002 trat Sid Eudy wieder im Wrestling-Ring an, ohne jedoch noch einmal dauerhaft bei einer der führenden Wrestling-Promotions unter Vertrag zu kommen. Lediglich in der WWE kam es noch einmal zu wenigen nostalgischen Überraschungsauftritten um den Zeitraum der tausendsten RAW Episode (2012).

Sid trat auch weiterhin und international im Wrestling-Ring auf und beendete schließlich 2017 seine aktive Karriere endgültig. Zwischenzeitig nahm er an Bodybuilding-Wettbewerben für über 50-jährige teil.

Harte Währung

Bis heute (2020) ist Sid Eudy noch nicht Teil der WWE Hall of Fame. Für einen Mann, der jeweils zweimal das höchste Gold in WWF und WCW halten konnte und der bei WrestleMania zweimal im Main Event stand, ist das ziemlich erstaunlich, spiegelt aber die Karriere von Sid Eudy im Wrestling wider. Viele seiner damaligen Weggefährten haben seither die Ansicht geäußert, dass Sid, der quasi überall auf dem kurzen Dienstweg zum Main Eventer avancierte, bedeutend mehr hätte erreichen können, wenn er sich diplomatisch geschickter verhalten und sich für eine der beiden großen Promotions unentbehrlich gemacht hätte.

Doch Sid Eudy hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihn reiner Geschäftssinn ins und im Wrestling rieb. Somit war er für rosige Karriereversprechen der Promoter wenig zugänglich und interessierte sich eher für die zählbaren Resultate derselben. Dies und seine klare Präferenz, den Bösewicht zu spielen, haben seine Karriere wohl nominell „erfolgloser“ aber gewiss nicht ertraglos gemacht. Doch wer kann es dem Hünen mit dem durchdringenden Blick schon verdenken? Dem Mann, der mehr furchteinflößende Aura im kleinen Finger hatte als viele Kollegen im ganzen Körper.


Werbung