
Bildquelle: Marianne Casamance [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons (Bild bearbeitet)
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In erster Linie wird der professionelle Radsport als überragende Ausdauer-Disziplin wahrgenommen. Das hat sicherlich seine Berechtigung. So sind Radsportler beispielsweise die Athleten mit den größten Herzen. Und das ist nicht im übertragenen Sinne gemeint. Der Herzmuskel von professionellen Radsportlern wie jenen, die bei der Tour de France und Co. über die Straßen brettern, ist im Schnitt erheblich größer als bei uns normalsterblichen Hobbysportlern.
Wer sich jedoch eingehender mit dem Radsport beschäftigt, sei es als ambitionierter Amateur Radrennfahrer oder einfach nur als interessierter Radsportfan, der stellt schnell fest, dass Renntaktik und Teamwork im Radsport unerlässlich sind. Der ausdauerndste und talentierteste Team-Kapitän wird spätestens bei mehrtägigen Rundfahrten, ganz zu schweigen von Grand Tours (Tour de France, Giro d‘Italia und Vuelta), in die Bredouille kommen, wenn er kein starkes und taktisch gut operierendes Team im Rücken (oder eher gesagt: vor sich) hat.
Alle Taktik im Radsport dreht sich um Krafteinteilung. Und zwar in beide Richtungen. Wann macht es Sinn, konservativ zu fahren und sich im Windschatten aufzuhalten? Und wann ist es zwingend notwendig, die Nase in den Wind zu halten und das Rennfahrrad nach vorne zu peitschen? Das Ganze nicht nur mit Blick auf die eigenen Energiereserven, sondern auch auf jene der gegnerischen Fahrer und Teams. Es geht darum, den Rennverlauf einer Etappe richtig zu antizipieren und ihn dann, auf der Straße, richtig zu deuten. Die richtige Attacke zur richtigen Zeit kann den Sieg des Rennens bzw. der Etappe bringen. Die richtige Attacke zur falschen Zeit ist jedoch nahezu ausnahmslos zum Scheitern verurteilt.
Diese Überlegungen müssen Radrennfahrer sowohl individuell als auch auf Team-Ebene, mit Blick auf Koordination und gegenseitige Unterstützung, anstellen. Anhand der generierten Watt-Zahlen, die heute überall im Radsport erfasst werden, lassen sich Belastungsschemata besser nachvollziehen als je zuvor. Die Zeiten, in denen Radrennfahrer allein nach Körpergefühl fahren mussten, sind vorbei. Diese Entwicklung hat nun auch transparent nachvollziehbar gemacht, wann Radrennfahrer typischerweise die meiste Energie aufwenden. Und zwar immer am Anfang und gegen Ende einer Etappe. Anfangs versuchen viele Fahrer, einen Fuß in die Ausreißergruppe zu bekommen, während die Teams im Feld aufpassen müssen, wen sie entkommen lassen und wen nicht. Und zum Ende geht es natürlich in die rennentscheidende Phase.
Selbst gestandene und gefeierte Ausreißer wissen, dass sich der Aufwand an der Ziellinie zumeist nicht bezahlt macht. Der ehemalige deutsche Radrennfahrer Jens Voigt, dem man heute meist im Radsport Live Stream von ARD und Co. lauschen kann und der selbst als offensiver sowie durchaus erfolgreicher Ausreißer galt, sagte dazu einst, dass nach seiner Einschätzung nur einer von zehn Ausreißversuchen zum Erfolg führt. Was hat es also auf sich mit einem Manöver, bei dem die Erfolgsaussichten derart niedrig scheinen? So Einiges! Denn es gibt durchaus gute Gründe dafür, in die Ausreißergruppe zu kommen:
Gerade für viele kleinere Teams aus der zweiten Reihe und für Fahrer, die sonst eher als Helfer für ihre Kapitäne auftreten, sind Ausreißversuche oft die einzige Möglichkeit, zum Etappenerfolg zu kommen.
Sehr unterschiedlich voneinander sind die Renntaktiken mit Blick auf Eintagesrennen und auf ein- bis dreiwöchige Rundfahrten (wie beispielsweise die Tour de France). Bei Eintagesrennen wird alles in dieses eine Rennen investiert, denn es gibt nur eine Zielankunft und nur einen Sieger! Hier kommt es also sehr viel mehr auf die Qualitäten und Stärken der einzelnen Fahrer an, die alles in dieses eine Rennen hinein schmeißen. Würden sie hingegen bei einem Etappenrennen so auftreten, würden sie nach ein paar Tagen einbrechen und aufgeben bzw. schwere Zeiteinbußen hinnehmen müssen.
Aus eben diesem Grund haben Ausreißer auch sehr viel bessere Chancen eine Etappe inmitten eines laufenden Etappenrennens zu gewinnen, weil das Feld sie sehr viel eher toleriert. Auch sind die Fahrertypen, die typischerweise bei Eintagesrennen dominant auftreten, ganz andere als jene, die als starke Klassementfahrer bei einer Grand Tour gelten. Der Belgier Philippe Gilbert beispielsweise hat zum Zeitpunkt dieser Niederschrift bereits vier der fünf großen Monumente des Radsports (die ältesten und bedeutendsten Eintagesrennen) gewinnen können. Bei Grand Tours hingegen spielt er im Gesamt-Klassement kaum eine Rolle.
Dies sind nur die übergeordneten taktischen Aspekte. Einige andere, wie was einen funktionierenden Sprinter-Zug ausmacht, wie das Feld versucht, die Ausreißer vorne zu „managen“ und wie sich Taktiken in Bergetappen von jenen in Flachetappen oder hügeligen Etappen unterscheiden, würden noch weiter führen und werden an gesonderter Stelle besprochen.